Austernpilze

Es war der heißeste Juli seit zehn Jahren. Die Blumen auf dem Balkon verdorrten, die Menschen in der Innenstadt bewegten sich weitaus langsamer, als der Schweiß unter ihrer Kleidung rann, über den Viktualienmarkt schwirrten Fliegen. Nur aus Liebe lief Irene mit zwei vollen Tüten und einem Korb beladen in den ersten Stock ihrer Wohnung hinauf. Sie schloss die Tür auf, trat ein und sah durch die Küche hindurch zwei behaarte, nicht gebräunte Beine, die sich auf dem Balkon streckten. Ein Anblick, der sie freute und gleichzeitig wehmütig stimmte. Sie sah nur ein Stückchen von Harald, aber sie konnte immerhin sagen: er ist noch da. Es war ihr letzter gemeinsamer Tag vor seiner Abreise. Es war der Tag, bevor Irene zum ersten Mal ihre Stimme hörte.

Die zwei Flaschen Rosé, die sie gekauft hatte, legte sie ins Eisfach, dann trat sie auf den Balkon und betrachtete eine Weile Haralds Gesicht, das wie in einem schwülen Halbschlaf lag. Seit sie in der Früh die Wohnung verlassen hatte, sehnte sie sich nach ihm. Als sie ihn küsste, blieben seine Augen geschlossen, doch seine warme Hand schob sich unter ihr T-Shirt.

Mittlerweile hingen dunkle Wolken am schwefelgefärbten Himmel und es roch nach muffiger Feuchtigkeit. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis ein Gewitter kam, das in einem erfrischenden, dicktropfigen Sommerregen seinen Höhepunkt findet, ein Gewitter wie ein leidenschaftlicher Liebesakt. 

„Ich war auf dem Markt“, sagte Irene und setzte sich breitbeinig auf Haralds Schenkel. Ob die Nachbarn vom Haus gegenüber zufällig oder absichtlich aus dem Fenster sahen, war ihr egal, sollten sie doch glotzen. Zwei Liebende bilden eine Kapsel. Man ist gefeit, wogegen auch immer, unverwundbar. Dachte sie. 

„Hattest du nicht Redaktionssitzung?“, fragte Harald.

„Ja, der Abgabetermin für die beiden Artikel wurde vorverlegt. Ich bringe dich morgen Nachmittag noch zum Zug, dann muss ich wirklich loslegen. Aber das ist morgen. Heute Abend gibt´s frische Austernpilze.“

„Hmm! Und wie machst du die?“ 

„Ich brate sie in Butter an, gebe etwas Salz und frische Petersilie dazu, und dann werden sie gaaanz, ganz vorsichtig mit Tagliatelle vermischt“, sprach Irene in Haralds Ohr.

Zwei Stunden später lösten sie sich voneinander, erschöpft von der Liebe, die mit einem langen Kuss begann, als sich die Schwüle endlich in einem Wolkenbruch entlud. Sie ließen sich beregnen, die Haut des anderen schmeckte nach Regen. Dann, während die Pilze in der Butter brutzelten und die Pasta al dente kochte, überkam Irene ein Gefühl des Glücks. Obwohl sie hier am Herd stand, den Töpfen zugewandt, sah und spürte sie, wie Harald in seinen Shorts draußen auf dem nassen Klappstuhl saß, sah sein zufriedenes Gesicht mit seinem befriedigten Körper und wie er den eiskalten Rosé genoss. Warum konnte es nicht immer so sein?
Weil die Tage bald wieder ihren gewohnten Rhythmus annehmen würden und auch, weil ihr das eigentlich so gefiel. Seit Jahren zelebrierte das Paar Wiedersehen und Abschiede. Das gehörte zu ihnen, genauso wie die Kraft- oder Mutlosigkeit etwas daran zu ändern. Jeder lebte in seinen eigenen, individuell geschmückten Wänden, und nur dort schien man sich wirklich sicher zu fühlen.

Als Irene am nächsten Tag vom Bahnhof zurückkam, fand sie ihre Wohnung leer von Liebe. Sie setze sich an ihren Schreibtisch, betrachtete eine Weile die kleinen vertrauten Gegenstände darauf und begann, wieder sich selbst zu gehören. Gegen zehn Uhr kochte sie eine Kanne Kaffee, öffnete weit die Balkontür, stellte den Computer an und legte die CD von Fairuz ein, die Harald ihr geschenkt hatte. Es würde eine lange Nacht werden. 

Manchmal schweiften ihre Gedanken ab, sie hörte der Musik zu und sog die sommerlichen Düfte ein, die von draußen hereinströmten. Die Erinnerung auf ihrer Haut machte ihre Sinne sensibler. Eine ruhige, friedliche Aura, die sie am nächtlichen Arbeiten so liebte, breitete sich um sie herum aus. Nur das Klackern der Tastatur war zu hören. 

Um halb eins klingelte es an der Tür. Zu schrill und deshalb unwirklich platzte es herein. Halb eins! Irene kam es vor, als wäre sie in einen Traum gesprungen. Möglicherweise war das Fran, der verrückte Typ aus dem zweiten Stock. Aus irgendeinem Grund hoffte sie es sogar. Fran kam öfter gegen Morgengrauen nach Hause. Da schien der Alkohol seinen Körper so schwer zu machen, dass er es nur unter größter Anstrengung die Treppe hinauf schaffte. Mehrmals hatte er versucht, mit seinem Schlüssel Irenes Tür zu öffnen und konnte nicht begreifen, dass er noch einen Stock höher musste. Einmal fand sie ihn sogar schnarchend auf der Treppe liegen, seinen Körper über vier Stufen verteilt. Irene ahnte, dass es diesmal nicht Fran war. Warum, hätte sie nicht sagen können, vielleicht lag es an der Art, wie geklingelt wurde, energisch, fordernd, mach auf.  

Sie öffnete die Tür, machte Licht im Hausflur. Fran stand oder lag nicht irgendwo herum. Sie drückte den Knopf der Sprechanlage. „Hallo?“

„Machen Sie bitte die Musik leiser“, fuhr sie eine barsche Frauenstimme an. Es war diese Stimme, die dem Klingelton eine andere Färbung gegeben hatte.

„Wer ist denn da?“

„Man hört alles durch Ihre offenen Fenster.“ 

Sie meinte Schritte zu hören. „Hallo?“
Nur noch das Geräusch der Nacht draußen kam durch den Lautsprecher. 

Irene lief auf den Balkon und sah hinunter. Der schmale Weg, der vom Hintergebäude zum Vorderhaus führte, lag dunkel und ruhig da. Es war niemand zu sehen. Wo kam diese Frau plötzlich her? Wer war sie? Aus diesem Haus konnte es niemand sein. Über ihr wohnte Fran, neben ihr ein freundliches altes Ehepaar, und unter ihr wohnte ebenfalls ein Mann, mit dem sie kaum mehr als die üblichen Begrüßungsfloskeln wechselte. Manchmal kam seine Freundin zu Besuch. Zugegeben, etwas merkwürdig fand sie dieses blasse, verhuschte Mädchen schon, aber Irene traute ihr nicht zu, dass sie mitten in der Nacht bei ihr klingelte, um sich über die Sprechanlage zu beschweren. Es musste jemand aus dem Haus gegenüber sein.

Sie stellte die Musik leiser, noch leiser. Herausgerissen aus ihrer einsamen Zufriedenheit, lief sie auf und ab, auf einmal beunruhigt. Fünf Jahre wohnte sie nun hier, war eine der Ersten gewesen, die in diesen Neubau im Hinterhof einzogen. Ausgerechnet über sie, eine ruhige und ordentliche Mieterin, wollte sich jemand beklagen? Die Musik war doch wirklich nicht laut gewesen. Das passte einfach nicht zusammen. Irene versuchte, eine Weile weiterzuarbeiten, stand aber immer wieder auf, trat an die Balkontür und sah hinüber zum anderen Haus. Nichts rührte sich da, keine Antwort auf die Frage, die sich in ihr ausbreitete, kein Schatten hinter einer Gardine, kein Vorhang, der sich bewegte.
Sie erzählte es Harald am Telefon. Der lachte, und irgendwann lachte sie mit, stimmte in sein Scherzen ein. In der Monotonie des Alltags und zwischen ihren hektischen Kollegen fühlte sie sich gut aufgehoben, die Arbeit ließ ihr keine Zeit, um an diese verrückte Nachbarin zu denken. Denn das war sie doch, verrückt. Die spinnt einfach, dachte sie.

Es verging eine Woche, vielleicht etwas mehr, bis zu dem Abend, an dem Irene einen Brief in ihrem Postkasten fand. Für einen Moment freute sie sich, denn Harald gehörte zu den wenigen Menschen, die noch Briefe schreiben. Die Freude war nur ein kurzes Aufflackern, unecht, wusste sie doch bereits, dass es sich nicht um einen Brief von Harald handelte. Auf dem Umschlag stand ihr Name, sonst nichts. Irene machte ihn auf und erkannte sie sofort in dem Geschriebenen:

„Wenn Sie gerne nachts arbeiten, schließen Sie gefälligst Ihre Türen und Fenster. Das Geklapper Ihres Schreibgerätes ist störend, die orientalische Musik, die Sie immer hören, unerträglich. Aus Ihrer Wohnung dringen ständig Geräusche. Ich weiß, wenn Sie mit Ihrem Freund telefonieren, wenn er Sie besucht, wenn Sie Liebe machen wollen. Ich weiß, wie Sie Austernpilze braten. Ich höre, wenn Sie eine Flasche Wein entkorken und wenn Sie Geschirr spülen. Es reicht jetzt.“

Irene machte überall Licht und sah sich um. Das gelb gestrichene Wohnzimmer, die Küche mit Balkon, ein kleines Schlafzimmer, ein Bad. Hübsch, überschaubar, ein Ort, an dem sie sich immer wohlgefühlt hatte, der nur ihr gehörte. Er trug ihren persönlichen Geschmack, ihren Geruch, hier lagen ihre Gedanken und Erinnerungen. Es kam ihr plötzlich so vor, als blickten all die Gegenstände sie an, wie einen Eindringling, als wäre es nicht Irene gewesen, die sie an ihren Platz gestellt, ihnen ihre Bedeutung gegeben, sie gepflegt hätte. Sie wirkten wie von fremder Hand berührt, nichts sah mehr so aus wie sonst. 

Ihre Hände zitterten immer noch, als sie den Brief zum dritten Mal las. Keine Unterschrift, kein Name. Dann blickte sie zu den schweigenden Fenstern auf der anderen Seite des Hofes. Welches war es? Stand diese Frau da irgendwo im Dunkeln und sah herüber?

Bei Harald lief nur der Anrufbeantworter. Enttäuscht legte sie auf. Dann fiel ihr ein, dass er geschäftlich in Belgien war. Er war oft unterwegs, hatte seinen Beruf, sein Leben, genau wie sie. Was immer so gut gepasst hatte, machte sie auf einmal traurig. Wie sehr wünschte sie sich die Nähe zu ihm, nicht nur seine Stimme, sondern echte, körperliche Nähe, die sie sonst nur in schmalen Zeitscheiben mochte. Wie sehr wünschte sie sich nun, mit einem Menschen zusammen zu sein, nicht mehr allein, geschützt.   

Gern hätte sie all dem keine Bedeutung beigemessen, hätte es abgeschüttelt, übertrieben und beleidigend wie es war. Aber das ging nicht. Ich weiß, wie Sie Austernpilze braten. Es war dieser Satz, der sie bis ins Innere traf. Es war etwas ganz Konkretes, etwas, das einen festen Platz zwischen den lieb gewordenen Erinnerungen einnahm. Austernpilze, so ein harmloses Detail. Es gab Irene plötzlich die Gewissheit, dass sie von nun an keine Ruhe mehr vor ihr haben würde. Diese Nachbarin, so nah, zu nah, aber für sie ohne Gesicht. Sie beobachtete, belauschte und blieb anonym. Sie war hier, stand hinter ihrem Rücken, sah ihr über die Schulter. Was Irene auch tat, diese Frau würde es immer wissen.

Einen Monat später erhielt Irene einen Anruf. Das Schrillen des Telefons um zehn Uhr abends hatte bereits ihren Klang. Natürlich war es nicht Harald, der sie viel zu selten anrief. „Wer sind Sie?“, fragte Irene. 
Als im Oktober der zweite Brief kam, kündigte sie die Wohnung.

copyright by Daniela Gerlach, 2013
Austernpilze, erschienen in: Best of Wort-Café, Siegertexte 2013-2014, Hrsg. Heike Wulf