Pjatigorsk

Dobryj den!
Meine Reise nach Pjatigorsk

Erzählt man den Leuten, dass man nach Russland fliegt, zeigen schon die Reaktionen, dass das nicht das Gleiche ist wie nach Mallorca zu fliegen. Überraschung, ein bisschen Neid und Skepsis von wegen der Politik – Wladimir ist zwar kein Iwan, aber vielleicht ein genauso Schrecklicher. Und schließlich geht´s in den Nordkaukasus. Ist es da nicht gefährlich? Russland, da schwingt Größe und Weite mit, Anziehung und Ablehnung, Geheimnis und sehr viel Unwissen. Ich bin Teil einer kleinen Delegation Dortmunder Autor*innen, die zum deutsch-russischen Schriftstelleraustausch in ein Städtchen namens Pjatigorsk reisen. Wohin? Kennt kein Mensch. Irgendwo „da unten“ am Schwarzen Meer. Aber selbst das stimmt nicht.

Mineralnyje Wody heißt unser Zielflughafen, und das gleich vorneweg: Obwohl wir uns in einer Gegend der Kurorte und Heilquellen befinden, dieser hat mit Mineralwasser nichts zu tun. Ein Ort, um einen schrägen Low-Budget-Film zu drehen, denke ich, als wir aus dem Flugzeug steigen und uns an Bauzäunen und Schuttbergen vorbei durch provisorische Türen schlängeln. Unsere aufgedrehte Gruppe findet in vorfreudiger Erwartung gerade alles toll, selbst das feucht-kalte Wetter, weil: es ist russisch. Die Ankunftshalle gleicht eher einem etwas größeren Café, in dem sich das Stimmen- und Menschengewirr zusammendrängt. Muslimische Frauen, zwischen Taschen und Bündeln herumwuselnde Kinder, Alte in schmutzigen Sachen, zwielichtige Geschäftsmänner, Sicherheitspersonal, Spione … (ganz sicher!). Unter dem grellen Deckenlicht scheint sich alles zu versammeln, nur keine Touristen. Nach fünf Minuten kommen unsere Gepäckstücke hintereinander über das einzige Förderband. Das ging schnell.

Erste Eindrücke von Russland

Draußen warten wir auf Dr. Natalia Kashirina von der Linguistischen Abteilung der Universität Pjatigorsk. Sie wird uns in unsere Unterkünfte bringen, die nächsten Tage begleiten und für uns übersetzen. Wir schließen unsere Jacken, es sind 15 Grad weniger als im sommerlichen Dortmund, die Luft ist kalt und klar – Mineralwasser-Luft, also doch. Dann entdecken wir Natalia. Als sie winkend auf uns zurennt, geht die Sonne auf. Wir mögen sie sofort und wissen, dass einfach nichts mehr schiefgehen kann.

Drei von uns werden im Studentenwohnheim gleich neben der Staatl. Universität Pjatigorsk untergebracht, zwei in einem Hotel in der Nähe. Um ins Wohnheim zu kommen, passiert man Schranken und Sicherheitstüren, die Fenster sind vergittert. Schon beim Betreten des Eingangsbereichs, wo die Pförtner sitzen, hat man das Gefühl, hier ist irgendwann in den Siebzigern die Zeit stehengeblieben, es hat etwas Kafkaeskes. Ein Ort, um sich hinzusetzen und zu schreiben und nie wieder aufzuhören. Ein ernst blickender Pförtner überreicht uns die Schlüssel. Dobryj wetcher! Guten Abend!
Auch die Studentenzimmer müssen in einer Zeit eingerichtet worden sein, in der wir Russland noch nicht in Erdkunde hatten. Zwei Zimmer mit je zwei Betten, zwei Tischen, zwei Regalen, zwei Schränken aus Resopalplatten, verbunden durch einen winzigen Flur, in dem Kühlschrank und Mikrowelle stehen. Dusche und Toilette sind vorhanden. Wir müssen also nicht über diesen unheimlich langen Gang und die Sanitäranlagen mit zwanzig Leuten teilen. Wir hatten schon mit dem Schlimmsten gerechnet.

Nix „ursprünglich“
  
Um eine Kleinigkeit zu essen, empfiehlt man uns das Café Neapolitana, vielleicht, weil es etwas „Modernes“ ist. Kann ja keiner wissen, dass wir russische Gemütlichkeit suchen, das Ursprüngliche, was auch immer sich unsere Gruppe darunter vorstellen mag. Wohnheim und Uni liegen am Kalinina Prospekt, einer breiten, verkehrsreichen Straße. In den nächsten Tagen müssen wir sie täglich mehrmals überqueren, wobei man jedes Mal sein Leben aufs Spiel setzt, wenn die Autos auf die Fußgänger zurasen und wenige Zentimeter vor ihnen mit quietschenden Reifen zum Stehen kommen. Man hat genau fünf Sekunden Zeit, um auf die andere Seite zu hechten. Wenn ich mir überlege, wie bei uns die Leute smartphoneversunken über die Straße latschen oder mit diesem „Ich-hab-Zeit-Blick“ Kinderwagen zeitlupenartig vor sich herschieben (während sie aufs Smartphone starren, klar). Die hätten hier keine hohe Lebenserwartung. Ein paar Hochhäuser und Plattenbauten blicken düster auf uns herab, ein riesiges Eisenskelett, das mal ein Einkaufszentrum werden soll, steht wie fehl am Platz herum. Ich hatte mir diesen Ort, in dem früher der Adel kurte und der Schriftsteller wie Michail Lermontow und Leo Tolstoi beherbergte, anders vorgestellt. 
Bei Pizza, Bier und einem schwarzen Burger, den sich unser Kollege bestellt, versuchen wir gegen den Lärmpegel anzureden. Es gibt ähnliche Lokale in Deutschland, in Spanien, wahrscheinlich überall auf der Welt. Food, drinks, music –  amerikanisierte Fresströge mit Lifestyle-Drumherum. Auf zwei überdimensionalen Bildschirmen laufen Musikvideos, räkeln sich Barbie-Puppen-Schönheiten und tönen Konservenstimmen.
Nix „ursprünglich“ also. Es wird ja wohl noch andere Lokale außer diesem und dem Mc D. nebenan geben, sagen wir und blicken uns ängstlich um. Das hier kann doch nicht alles sein. Oder was hatten wir uns vorgestellt? Eine russische Spelunke, in der wir bei fettem Speck und Wodka fraternisieren? Ach, wir sind eben heillose Romantiker. Da haben wir mit dem verehrten Michail Lermontow schon mal etwas gemeinsam.

Im Bett liege ich auf einem Kopfkissen so hoch wie ein Berg. Ich versuche, die übermäßige Ansammlung von Daunen runterzudrücken, habe Durst von der Pizza und zu wenig Wasser in der kleinen Flasche, die auf dem Schreibtisch neben mir steht. „Einteilen“, steht da drauf, sonst überlebe ich diese Nacht nicht. Während ich nicht einschlafen kann, frage ich mich, wer in diesem Zimmer gewohnt, in diesem Bett geschlafen hat. Welche Fächer hat der Student oder die Studentin studiert? Welche Bücher standen in dem Regal über mir? Ich bin hier sehr weit weg von Dortmund und von meinem spanischen Zuhause, und doch will kein Fremdheitsgefühl aufkommen.

Samstag, 12.5.

Dobryj den! Guten Tag!
Um zehn Uhr erwartet uns vor dem Wohnheim ein Mann mit dem herrlichen Namen Wjatschjeslaw Iwanowitsch Schulshjenko. Er ist Professor und Leiter der Abteilung „Literarisches Schaffen“ am Institut für Translation und Mehrsprachigkeit der Universität Pjatigorsk. Zusammen mit den Studentinnen Leila und Anja wird er uns auf einen ausgedehnten Spaziergang am Maschuk, dem Hausberg der Stadt, mitnehmen. Draußen ist es bewölkt und kalt, allerdings kommen wir bei dem Tempo, das der Mann vorlegt, fast ins Schwitzen. Herr Schulshjenko spricht kein Deutsch, zu meiner großen Überraschung aber etwas Spanisch. Vor langer Zeit war er für zwei Jahre in Madrid, erzählt er. Deutsch-russische Verständigung über die spanische Sprache, schon witzig.
Während wir über eine asphaltierte, waldumsäumte Straße bergan gehen, erzählt uns Leila die Legende von Maschuka und Beschtau. Es gibt mehrere Versionen dieser Legende, wir hören folgende Version:
Maschuka war eine junge Schöne, geliebt von Beschtau, dem Sohn des Kriegsherrn Elbrus. Beschtau schenkt seiner Angebeteten einen Ring, der sie und ihre Liebe schützen soll. Ausgerechnet der Vater begehrt das schöne Mädchen ebenfalls. Hinterlistig schickt er seinen Sohn in den Krieg, von dem er möglichst nicht zurückkommen soll, und heiratet das Mädchen gegen ihren Willen. Als er hinter den Zauber kommt, reißt er ihr den Ring so heftig vom Finger, dass der bis Kislowodsk kullert und dort zum Ringberg wird. Nun kommt Beschtau zurück und sieht die Bescherung, ein unerbittlicher Kampf zwischen Vater und Sohn entbrennt. Elbrus verliert zwar seinen Helm (der zum Eisenberg wird), doch geht er als Sieger hervor. Der Tod des Sohnes reicht dem grausamen Vater nicht, er muss Beschtau auch noch mit seinem Schwert in fünf Teile hacken. Und so entstand der fünfgipfelige Beschtau-Berg, der dem Kurort seinen Namen gab: Pjatigorsk – Stadt der fünf Berge.
Es wird darüber gestritten, ob der Mont Blanc oder der Elbrus der höchste Berg Europas ist. Tja, je nachdem, wo man die Grenze zwischen Europa und Asien ziehen will. Für uns ist es jedenfalls der Elbrus mit seinen 5642 Metern.

Wir erreichen eine zugige Anhöhe, die ein steinerner Bogen krönt:  das „Tor der Liebe“, wo einst Beschtau seiner Maschuka den Ring gab. Frisch Verheiratete kommen hierher, damit der Bräutigam seine Angebetete durch das Tor trägt. Ob das Glück bringt, wenn man bedenkt, welche fatalen Folgen der Ring für das Liebespaar der Sage hatte? Natürlich wird ein Gruppenfoto unter dem Bogen gemacht: Hier stehen fünf Westfalen mit Liebe im Herzen.
Der Blick von hier oben ist trotz des trüben Wetters überwältigend. Eine sattgrüne Landschaft, aus der harmonisch einzelne Berge und Hügel ragen, erstreckt sich, so weit das Auge reicht. Irgendwo dahinter liegt Georgien, und weiter Aserbaidschan, und ganz, ganz weit hinten, fängt der Iran an! Es gibt Landschaften, bei denen einen so etwas wie Ehrfurcht überkommt.

Nun geht´s bergab. unser Professor legt noch mal einen Zahn zu, denn wir müssen pünktlich 12 Uhr unten im Ort sein, wenn das Poesiefestival beginnt. Doch wir klüngeln, vertieft ins Gespräch mit Leila und Anja. „Ich würde gerne öfter ausgehen“, sagt Anja, wobei sie sich auf das Spazierengehen bezieht, draußen in der Natur sein, durchatmen. Sie muss viel lernen, sagt sie, jeden Tag. In unseren Erinnerungen sieht das Studentenleben etwas anders aus. Natürlich wurde gelernt, aber es war doch auch eine intensive Zeit mit Theater- und Kinobesuchen, Tanzen, Flirten, Reisen. Diese jungen Leute sind sehr diszipliniert. Sonst könnten sie wohl auch nicht ein so ausgezeichnetes Deutsch sprechen.

Poesie

Unten am Kirova Prospekt sieht es endlich nach Kurort aus. So ähnlich hatte ich es mir vorgestellt. Parkanlagen, Baumalleen, Villen, Häuser mit Vorgärten. Über allem liegt ein verblichener Charme, ein Hauch Dekadenz, der einem solchen Ort gut steht. Man kann nur hoffen, dass die alten Häuser nicht gänzlich verfallen. Auf dem kleinen Platz vor dem 1914 erbauten Operettentheater steht schon eine Menschentraube. Einmal im Jahr treffen sich Poesiebegeisterte zu diesem Straßenpoesiefestival, um eigene oder  fremde Gedichte vorzutragen. Es sind junge und ältere Menschen dabei, Leute aus Pjatigorsk und solche, die von weiter und von weit her kommen, sogar aus dem Ausland. Das Festival findet heute zum zehnten Mal statt, es ist wichtig für die Leute hier. Es ist auch wichtig, dass der neue Bürgermeister das Festival fördert und heute erstmals erschienen ist. Andrej Skripnik ist ein gut aussehenden Mann, da sind sich die deutschen und russischen Frauen einig, eine Art Pjatigorsker George Clooney, könnte man sagen.
Wir treffen auf Natalia Kashirina, die für uns, zusammen mit Prof. Dr. Margarit Worosowa, übersetzt. Man bildet einen Halbkreis, Prof. Schulshjenko eröffnet das Festival mit einer kleinen Rede. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber ich verstehe seine Begeisterung für Poesie und Literatur im öffentlichen Raum. Ich verstehe sein Herz, seine Leidenschaft, und manchmal habe ich für Sekunden das Gefühl, ich verstehe die russische Sprache. Es ist nicht ein „Sich ohne Worte verstehen“, sondern ein „Sich in verschiedenen Sprachen verstehen“. Über zwei Stunden stehen wir im kalten Wind und lauschen den Vorträgen von schüchternen blassen Jünglingen, engelsgleichen Mädchen, zirkusreifen Hobbydichtern und bekannten Dichtergrößen wie Jurulan Bolatov oder Elena Dolschenko. Alles kann nicht für uns übersetzt werden, so hören wir einfach der Sprachmusik zu. 

Anne-Kathrin Koppetsch und Thorsten Trelenberg tragen Gedichte vor, die von Natalia und Margarit übersetzt wurden. Christiane Bogenstahl traut sich etwas, als sie auf Russisch das bekannte Lied „Pust Wsiegda Budiet Sonce“ singt. Nach wenigen Liedzeilen singen alle mit, ein wunderbarer Moment. „Es möge immer Sonne sein“ – der Wunsch nach einer friedlichen Zukunft, der in diesem Lied laut wird, ist in diesem Moment in Erfüllung gegangen. Russen, Georgier, Deutsche, Usbeken, Aserbaidschaner, Italiener stehen hier gerade zusammen. Ein paar Ältere, die noch wissen, was Krieg bedeutet, haben Tränen in den Augen. Nach der Veranstaltung schenkt Elena Dolschenko Christiane einige ihrer Gedichte. Ihr Vater sei damals bei der Befreiung von Berlin dabei gewesen, sagt sie mit feuchten Augen. Und jetzt fühle sie sich wieder motiviert, sich mit der deutschen Sprache, die ihr Vater gut beherrschte, zu beschäftigen. 

Liebe Freunde!

Nach dem Festival erwartet uns Vladimir Shatakishvili in einem georgischen Restaurant. Der Schriftsteller ist bekannt für seine literarischen Reiseberichte. Wir sind eine große Runde an der reich gedeckten Tafel. Den drei Vegetarierinnen in unserer Gruppe geht das Herz auf: Bohnenpaste, Auberginenröllchen mit einer würzigen Kräuterfüllung, gebratenes Gemüse, eingelegte Gurken und Zwiebeln, eine Art Pesto aus Spinat und Nüssen, Frischkäse, Fladenbrot und Wildsalat (auf einem Teller häufen sich alle möglichen Stängel und Blätter, die in der Gegend so wachsen). Auch die Fleischfreunde kommen nicht zu kurz, denn es gibt Chinkali, mit Fleisch gefüllte, kunstvoll gefältelte Teigtaschen, eine Spezialität. Dazu trinken wir einen weichen georgischen Rotwein von dunkelroter Farbe. Geschmacklich erinnert er an Waldbeeren. Es waren übrigens die Georgier, die die ersten Weinreben kultivierten, erzählt uns Vladimir, und zwar fast 6000 Jahre vor unserer Zeitrechnung.
Der lange Spaziergang und die Poesie haben uns Appetit gemacht, wir langen herzhaft zu, unsere Gaumen gehen neuen Geschmacksabenteuern entgegen. Nun darf man nicht denken, dass jetzt gegessen und getrunken und hin und wieder das Wort höflich an den Tischnachbarn gerichtet wird. Nach etwa fünf Minuten beginnen die Tischreden. Nicht zu verwechseln mit Trinksprüchen, bitte! „Liebe Freunde“, so fängt jede Rede an. Zunächst erhebt sich Vladimir Shatakishvili, der seine Freude über unser Kommen ausdrückt und uns eines seiner Bücher schenkt. Kurze Zeit später ist unser Prof dran. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir seinen langen Diskursen der Gastfreundschaft lauschen, aus denen immer Intelligenz und Herz zugleich sprechen. Natalia übersetzt in Lichtgeschwindigkeit (die Arme kommt kaum dazu, sich einen Bissen zum Mund zu führen). Man war gespannt, wie wir so sind, sagt Wjatschjeslaw Schulshjenko schmunzelnd, man spekulierte, stellte sich alles Mögliche vor und sicher war man auch ein wenig besorgt, ob alles klappen würde. Aber es klappt alles, es gibt überhaupt kein Problem. Den Gästen geht es wie den Gastgebern: Wir haben das Gefühl, uns schon länger zu kennen. Im Laufe des ca. zweistündigen Essens erhebt sich der Professor noch fünf- sechsmal, aber auch wir werden aufgefordert, etwas sagen. Wir sind gerührt, ehrlich, das hat nichts mit dem georgischen Wein oder dem guten Whisky zu tun, den einige probiert haben. Wir sind Nachkommen der Generation, die zwei schreckliche Kriege erleben musste. Dass wir heute hier in Frieden zusammensitzen dürfen, ist ein Geschenk. Eigentlich ist es so leicht, und doch ist es nicht selbstverständlich. Ich fühle mich hier zuhause, sage ich. Wie bei lieben Verwandten und Freunden.

Unsere Delegation, für den Rest des Tages sich selbst überlassen, spaziert langsam zurück durch einen riesigen Park, beseelt von Essen und Worten. Christiane kauft einem alten Marktweib eine Pfingstrose ab, die sie später einer Frau im Park schenkt. Die Frau ist blass, etwas verhetzt, über ihrem Gesicht liegt ein trauriger Ausdruck. Sie nimmt die Rose überrascht, aber mit offensichtlicher Dankbarkeit entgegen. Ein Moment, der in einem Foto festgehalten werden könnte, oder in einer langen Geschichte.  

Sonntag, 13.5.

Mit Anja und Leila wird heute die Besichtigungstour fortgesetzt. Wir wollen mit der Seilbahn auf den Maschuk. Den recht langen Fußmarsch bis zur Bahn verkürzen wir in angeregten Gesprächen über Literatur. Puschkin! Er ist der Größte, der Klassiker, jedes Kind kennt ihn, ähnlich wie bei uns Goethe, sagt Anja. Ich bin mir nicht sicher, ob bei uns jedes Kind den großen Alten noch kennt.

Leila macht uns auf die ein- bis zweigeschossigen Mehrfamilien-Häuser aufmerksam, man nennt sie „Chruschtschows“. Es sind schnell hochgezogene, schlecht isolierte Wohnhäuser aus der Chruschtschow-Ära. Auf mich wirken sie nicht hässlich, eher schlicht und zurückhaltend, als wollten sie sich an jede Zeit anpassen und ihre Verfallserscheinungen verstecken.
Ein besonders malerischer Ort ist der Friedhof von Pjatigorsk. Zwischen buckeligen Wegen liegen verfallene Gräber. An einigen der schiefen, mit Moos bewachsenen Stelen hängen Plastikblumen, die ihre Farbe längst verloren haben. Manche Gräber sind von Maschendraht umgeben, andere von kunstvoll geschmiedeten Eisengittern, die der Rost noch verschönert hat. Ein friedlicher Ort des Verfalls.

Friedhof Pjatigorsk

Ziemlich am höchsten Punkt des Friedhofs befindet sich das Grab von Michail Lermontow. Einen herrlichen Ausblick hat der Dichter von hier oben. Über einer weiten grünen Landschaft schweben Wolkenlandschaften, die sich irgendwo, vielleicht in Tschetschenien oder Usbekistan, vereinen.

Bei der Seilbahn stehen wir erst mal eine Weile an der Kasse an, denn es ist Sonntag und die Bahn zum Maschuk ein beliebtes Ausflugsziel. Eine Gruppe russischer Männer will wissen, woher wir kommen. Deutsche? Sie lächeln, ihre Blicke sind neugierig, gleichzeitig zurückhaltend, und irgendetwas anderes schwingt da mit, das ich mich nicht traue zu deuten. Sind sie Armeeangehörige? Ich wüsste gern, was sie unter sich reden; es ist offensichtlich, dass es um uns geht.
Vom Gipfel des Maschuk aus lassen wir uns vom Ausblick überwältigen. Obwohl kein klares Wetter herrscht, sieht es aus, als sei diese Landmasse zu unseren Füßen unendlich. Einige schwefelhaltige Seen machen sich da unten wie Pfützen aus. Auf einem lehmigen, mit Gestrüpp bewachsenen Hügel zeigt ein Wald von Wegweisern die Entfernungen zum Rest der Welt.

WindKlänge

Von der Seilbahn aus laufen wir am Fuße des Maschuk zurück. Die Studentinnen zeigen uns noch einige Sehenswürdigkeiten, an denen kein Pjatigorsk-Tourist vorbeikommt. Ein kleiner Tempel, 1831 von den Brüdern Bernadazzi erbaut, enthielt einmal eine echte Äolsharfe. Ihre Klänge, die einst der Wind auf dem Instrument spielte, werden nun leider elektrisch erzeugt. Immerhin kann man diese zarte Musik auch bei Windstille genießen. Obwohl Leute ein- und ausgehen, Fotos machen, sprechen, überkommt mich eine eigenartige Ruhe. Ich würde mich gerne setzten, eine Weile diesen Klängen lauschen und mir einbilden, die Landschaft habe sie geformt.
Von der Anhöhe aus sieht man die Puschkin-Bäder, wo früher das Haus des großen Dichters stand. Einige Meter unter dem Pavillon, befindet sich ganz versteckt eine natürliche Grotte, auch – und wie fast alles, was an nennenswerter Architektur vor Ort steht – von den Brüdern Bernadazzi. Lermontow liebte diese kleine Grotte und machte sie zu einem wichtigen Treffpunkt in seinem Roman „Ein Held unserer Zeit“. Ich finde, sie wäre der geeignete Ort, um in heißen Sommermonaten darin zu schreiben.  

Nach der ausgiebigen Wanderung wollen wir zum Abschluss gern in ein Café. Die Mädchen möchten uns etwas Besonderes bieten. Während wir wie müde Touris herumsitzen, bemühen sich die beiden, die Fahrt zu organisieren, doch offensichtlich fahren von hier aus weder Bahn noch Busse zum Wunschziel. Schließlich werden zwei Taxen gerufen. So ganz verstehen wir das System nicht. Es sieht so aus, als würden sich Privatleute mit ihren Autos als Taxichauffeure zur Verfügung stellen, das Kennzeichen des Wagens wird telefonisch durchgegeben. Die Autos sind oft ältere Modelle (was man sich bei einem russischen Durchschnittseinkommen eben so leisten kann) und die Fahrer sehen aus, als wären sie gerade vom Fernseher weggeholt worden. Sie rasen durch die überfüllten Straßen und bringen einen zum gewünschten Ort, und das auch noch ziemlich preisgünstig.

Nach Kaffee und köstlichem Gebäck laufen wir über eine breite Straße Richtung Wohnheim. Abgaswolken hängen über dem lauten, lebendigen Treiben, an einem Kiosk hängen hunderte von Zeitungen und Zeitschriften in verblasstem Bunt. Wie wunderbar doch Kioske sind, sie sollten Weltkulturerbe werden! Ebenso wie diese düsteren   Geschäfte, in denen man sich kaum umdrehen kann, und die vollgestopft sind mit Töpfen und Pfannen wirklich jeder Größe, Plastikschüsseln, Gerät, von dem man dachte, das gibt es nicht mehr. Hier gibt es alles, aber wirklich alles, was man im Haushalt braucht oder irgendwann brauchen könnte. An einem windschiefen Haus, das aussieht wie ein illegaler Handyladen, prangt überdimensional das Emblem „Apple-Store“. In gewissen Abständen über die lange Straße verteilt, stehen Stände mit Gemüse und Obst, riesige knallrote Tomaten leuchten neben Zwiebeln, an denen noch die Erde klebt, aus denen sie vor Kurzem gezogen wurden. „Das sind gute Sachen“, sagt Anja, „nicht gespritzt“. Man sieht hier ein Stück Alltag, ganz real, keine poetische Kurort-Dekadenz, ärmere und sehr arme Leute, zahnlose Münder, Schmutz, Jugendliche, die in Gruppen durch die Gegend ziehen, Männer, die rauchend die Stunden verstreichen lassen, und an all dem zieht unablässig der Autoverkehr vorbei, schließt diese Alltagsszenen wie ein Band ein. Zwischen dem Alten und Verfallenen, dem fast Vergessenen, blitzt immer wieder die Modernität in Form von kalten Hochhäusern, Schnellbäckereien, dem Geplärre amerikanischer Popmusik auf. Ich denke an die Äolsharfe. Die gibt es nicht mehr, aber ich schließe die Augen und stelle mir ihren Klang vor.

Montag, 14.5.

Knappe zehn Minuten von unserem Domizil entfernt liegt auf einer Verkehrsinsel eine Oase mit Namen „Provence“. Wenn man eintritt, duftet es nach Gebäck, alles sieht appetitlich aus. Die Croissants mit süßen Füllungen sind warm und bitten darum, gegessen zu werden. In der Mitte des Raumes steht ein einziger runder Tisch mit drei Sesseln, am Fenster einige Hocker und Stehtische. Zwei nette Frauen arbeiten hier, und es sind auch hauptsächlich Frauen, die hereinkommen, um ihren Morgenkaffee oder -tee zu trinken. Sie sind zu zweit oder zu dritt, wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit, zur Uni. Im Hintergrund läuft französische Musik, und während man das Frühstück genießt, fühlt man sich vor dem Lärm und Gestank, überhaupt vor allem Schlechten da draußen, sicher. Wir frühstücken nun jeden Morgen hier.
Um zehn Uhr steht ein wichtiger Termin in der Universität an: mit der Dekanin Prof. Dr. Irina Akopyants. Natalia wartet schon am Eingang auf uns. Ins Universitätsgebäude kann man nicht wie bei uns einfach reinspazieren. Hier passiert man erst eine Sicherheitstür, dann eine Schranke mit Wärter. Ohne Einladung oder ein anderes Dokument geht es nicht. Unser Passierschein ist die offizielle Einladung der Universität, die Schranke öffnet sich. 

Frau Akopyants ist eine beeindruckende Frau, eine Persönlichkeit. Schon während der Begrüßung habe ich das Gefühl, ihrem Blick entgeht nichts. Fast fühle ich mich in die eigene Studentenzeit zurückversetzt, als Direktor*innen und Professor*innen noch Autoritätspersonen waren. Unsere Konversation findet auf Englisch statt; die russischen Einschübe werden von Natalia wie immer schnell ins Deutsche übersetzt. Lächelnd, mit warmer Stimme, erzählt die Dekanin ein bisschen über sich und ihre Zeit in Amerika. Sie fragt uns, ob uns Pjatigorsk gefällt. Wir fühlen uns hier sehr wohl, sagen wir, und meinen das auch so. Natürlich sind wir schnell beim Thema Sprache und ihrem Gewicht, das sie zu verlieren droht, der Omnipräsenz des Englischen, der Wichtigkeit von Sprachaustausch. Es sei wichtig, Englisch zu lernen, sagt Frau Akopyants, aber andere Sprachen werden vernachlässigt und damit gehe leider auch ein Interessenverlust an anderen Kulturen einher. Deutsch lernen nur noch wenige. Und Russisch bei uns? Wohl noch weniger. Es gäbe Schwierigkeiten mit dem deutsch-russischen Austausch, hören wir. Warum ist das so? Deutsche und Russen vereint eine lange Kulturgeschichte. Diese Kultur sollte über den politischen Querelen und der negativen Presse stehen.

Nach dem Gespräch führt uns Natalia durch das Gebäude, das mir wie ein Labyrinth erscheint. Über Treppen und Gänge geht es vorbei an Scharen von Studenten und Studentinnen unterschiedlicher Couleur bis in die Philologische Abteilung. Durch eine offene Tür sieht man eine Gruppe, die gerade einen ethnischen Tanz einübt.
In diesem Institut werden viele verschiedene Sprachen gelehrt. Jeder Raum ist ein kleines Land für sich, aber hier liegen diese Länder Tür an Tür in harmonischer Nachbarschaft. Die jungen Menschen kommen aus Russland, Georgien, Tschetschenien, Usbekistan, sie sprechen und leben zusammen. Ein friedlicher Mini-Kosmos. Wissen sie um dessen Bedeutung?

Puschkin in unserer Mitte

 In einem der Seminarräume erwarten uns neben Prof. Dr. Margarita Morosowa, Lektorin Marlis Wenzel und unserem lieben Prof, etwa zwanzig Studenten und Studentinnen. Einige werden uns aktuelle russische Autor*innen vorstellen. Das interessiert uns brennend. Anja lächelt uns entgegen; wir begrüßen uns schon wie gute Freunde. Gemeinsam mit dem Studenten Vitali wird sie heute für uns übersetzen. Eine Meisterleistung, denn in den kommenden zwei Stunden wird viel gesprochen!

Prof. Schulshjenko betont die Wichtigkeit von Poesie und Literatur nach dem Zerfall der Sowjetunion. Der Poet sei so etwas wie ein Bodyguard der Poesie. In Russland gibt es mittlerweile viele Literaturpreise, Literaturforen und Veranstaltungen; ca. 600.000 Menschen schreiben auf Russisch. Heute sei es wichtig, über die aktuelle Geschichte zu schreiben, sagt er, dabei aber nicht von der marxistischen Position auszugehen. Romane würden helfen, bestimmte Themen zu verstehen. Eine bedeutende Stellung komme den Frauen in der Literatur zu. Ihr Blick sei anders, auch in Bezug auf soziale Probleme. Diese hohe Zahl an Literatinnen wie es sie heute gebe, kannte man in Russland bis vor kurzer Zeit nicht.
Zu erwähnen seien die vielen russischen Schriftsteller*innen, die im Ausland leben, obwohl man sie nicht unter den Begriff „russische Literatur‟ stellen dürfe, denn das seien zwei verschiedene Dinge, sagt Schulshjenko. In den letzten zwanzig Jahren zeige sich in der russischen Literatur besonders die Spaltung in Ost und West. Bereits im 20. Jahrhundert habe es ein großes Interesse für den Westen gegeben. Anja kann uns unmöglich alles übersetzen und einiges der interessanten Ausführungen geht sicher verloren. Ich denke, dass es einen großen Unterschied macht, ob es sich um Interesse an der westlichen Kultur handelt oder um eine Spaltung, also ein Abwenden vom Russischen, um sich dem Westlichen hinzuwenden. Viele Romane der letzten zehn Jahre seien eine Synthese aus europäischer und asiatischer Kultur, hören wir weiter. Die Schriftsteller*innen sind international, die Mentalitäten verschieden, sie vermischen sich. Europäische Leser haben leider keine Möglichkeit, kaukasische Literatur kennenzulernen, weil es keine Übersetzungen gibt. Es gebe kleine Völker, die fünf oder sechs Schriftsteller*innen haben; für diese sei es schwierig in Europa berühmt zu werden. Aus diesem Grund nehme die Russische Sprache eine Vermittlerrolle zwischen Europa und Asien ein.  

Moderne russische Literatur

Nun sind die Student*innen an der Reihe.
Als erstes wird uns Dina Rubina vorgestellt. Sie beschreibt Alltagsprobleme und -erfahrungen, wie z.B. das Leben alleinstehender Mütter. Dann sagt die Studentin – und der Zusammenhang ist uns nicht ganz klar –, es sei wichtig, sich selbst zu finden. Es sei schlecht, wenn Menschen andere Menschen manipulieren wollen, man dürfe nicht egoistisch sein.
Es sind Sätze, die man inbrünstig in die Umgebung schleudert, wenn man jung ist, und die sich dann verlieren. Manchmal findet man sie wieder und werden im besten Fall Überzeugung.
Als nächstes hören wir etwas über die Philologin und Journalistin Marina Achmedowa. Terrorismus ist ein Thema in ihrem Werk. Sie erinnert uns ein bisschen an Sybille Berg. Die Frau, die uns in der Power-Point-Präsentation gezeigt wird, ist überschlank und hat einen intelligenten wachen Blick. Man sieht, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt und mutig zu ihrer Meinung steht.
Efgenij Vodolazkin ist ein populärer Autor, nicht nur in Russland. Der Referent legt uns den Roman „Lavr‟ (Deutsch: Laurus) ans Herz. Auch Sergei Wassiljewitsch Lukjanenko ist weit über Russlands Grenzen hinaus als Science-Fiction- und Fantasy-Autor bekannt. Sein Roman „Nochnoi Dozor‟ („Wächter der Nacht‟), an den sich eine ganze Reihe anschließt, wird hervorgehoben. Wenn wir richtig verstehen, wird uns dieses Werk empfohlen, weil man nach den großen Klassikern auch einmal so etwas lesen könne. Warum auch nicht? Ich jedenfalls werde es ausprobieren.
Sachar Prilepin, der ehemalige Polizist, der zum Schriftsteller wurde, und als politischer Aktivist gilt, ist der letzte in der Reihe moderner Autoren, die uns vorgestellt werden. Militärische Themen sind Schwerpunkt seiner Romane, seine Stimme ist kritisch.
Keiner der Autor*innen ist uns Viellesern und Literaturexpert*innen bekannt. Die jungen Menschen haben sich viel Mühe gegeben, Überzeugung und Begeisterung spricht aus ihren Vorträgen. Sie haben uns angesteckt, wir möchten diese Werke auch kennenlernen.

Es war dann nicht einfach für den Buchhändler meines Vertrauens in Dortmund. Zum einen erschwert die unterschiedliche Schreibweise der Namen die Suche, zum anderen sind die meisten Bücher nicht oder nicht mehr erhältlich oder gar nicht erst ins Deutsche übersetzt worden. Mit Geduld und Hartnäckigkeit hat er es geschafft, dass ich mit Prilepin, Lukjanenko und Vodolazkin nach Hause fliegen konnte. Ich lese gerade „Laurus“ mit Begeisterung.  

Im Anschluss an die Vorträge diskutieren wir über die Situation der Literatur in Russland und Deutschland, welchen Stellenwert sie hat, wo die Schwierigkeiten liegen. Wie so oft stellt sich heraus, dass es Parallelen gibt. Die Student*innen sind allerdings überrascht, als wir vom Kampf der Literaturschaffenden erzählen. Sie staunen darüber, wie wenig ein (unbekannterer) Autor in Deutschland verdient, wie große Verlage kleine schlucken und alles zu einem Einheitsbrei verkommt, der auf gekauften Flächen in großen Buchhandelsketten und auf gekauften Plätzen der Bestsellerlisten angepriesen wird. Eine schmutzige Realität.
Bei einem Kaffee mit Margarita und Natalia geht die Diskussion weiter. Wie bringt man Menschen zum Lesen? Die Verflachung von Sprache – u.a. durch Anglizismen, durch digitale Medien – ist überall zu bedauern, leider auch in Russland, dem Land, in dem Literatur doch immer einen hohen Stellenwert hatte.

Der Abend ist frei. Christiane und ich setzen uns in eine Straßenbahn, die uns rüttelnd und wackelnd irgendwohin bringen soll. 19 Rubel, ca. 25 Cent, kostet die Fahrt, egal wie lange sie dauert. Es sind ärmlich gekleidete Frauen, die über Stunden während der Fahrt das Geld kassieren oder Fahrausweise kontrollieren. Wir steigen in einer Gegend aus, die uns attraktiv erscheint. Ein Park, villenartige Häuser, eine Zeile mit Geschäften und Restaurants, die unter großen alten Bäume liegt. Wir setzen uns in ein nettes Café. Im Schatten, unter einem mit bunten Regenschirmen überspannten Dach, genießen wir die Erfrischung und das Gespräch. Der junge Mann, der uns bedient, kann den Rubelschein nicht wechseln, mit dem wir bezahlen wollen. Er lädt uns einfach ein.
Es ist Sommerwetter, die Atmosphäre südlich, ein geschäftiges, gleichzeitig gelassenes Treiben überall. Autos mit lauter Musik ziehen kühn vorbei, und die jungen, langbeinigen Schönheiten nehmen bewusst keine Notiz davon.

Dienstag, 15.5.

Seit wir wissen, dass wir am Lermontow-Kongress in Pjatigorsk teilnehmen sollen, fragen wir uns, wie das vonstatten gehen soll. Wird Englisch gesprochen? Wird übersetzt? Wohl eher nicht. Die Tatsache, dass es um 10 Uhr losgeht und erst nachmittags endet, mindert unsere Bedenken keineswegs.
Im Lermontow-Museum, einem flachen, anheimelnden Häuschen, in dem der Dichter einige Zeit wohnte, findet der jährliche Internationale Lermontow-Kongress statt. Wir verteilen uns auf die wenigen freien Stühle und verstehen natürlich nichts von dem, was gesprochen wird, die Wichtigkeit und Feierlichkeit der Veranstaltung ist uns aber sehr wohl bewusst. Es kommen Gelehrte, Forscher, Begeisterte, Fans, Student*innen aus den verschiedensten Regionen Russlands und dem Ausland, sogar aus Japan und China (die Russisch sprechen, als sei das gar nichts). Unter den Gästen ist eine Frau, die mit Vladimir Shatakishvili gekommen ist, und uns als „letzte georgische Prinzessin“ vorgestellt wird. Wir werden sie zwei Tage später näher kennenlernen.
Michail Jurjewitsch Lermontow gilt als einer der bedeutendsten Dichter Russlands und Begründer des russischen Realismus. Ein scharfer Beobachter, Kritiker, Romantiker, aber auch ein Hitzkopf, und – wer weiß – vielleicht muss man ihm sogar einen schlechten Charakter nachsagen. Dass er 1841 mit nur 26 Jahren bei einem Duell starb, passt gut ins Bild; andererseits war das in jener Zeit keine Seltenheit. Für ein so junges Leben hat der Dichter ein beachtliches literarisches Werk hinterlassen. Der Roman „Ein Held unserer Zeit“, mit dem er die Grundlage für die Entwicklung des psychologischen Romans schuf, ist sicher eines seiner interessantesten Werke.

Nach anderthalb Stunden gibt es eine Pause. Es werden Fotos und noch mehr Fotos gemacht. Einige Kongressteilnehmerinnen nehmen  uns lachend in ihre parfümumwölkte Mitte – klick, klick. Spasiba, danke! Wir sind fürs erste „entlassen“ und fahren zur Universität zurück. Auf dem Weg durch den Kurpark lässt sich jeder noch schnell vor der Tolstoi-Büste fotografieren. „Ich und Tolstoi“ – haha. Ja, auch ER lebte und schrieb in Pjatigorsk, wir wandeln hier wirklich auf heiligem Boden.
Die Sonne brennt heiß am klarblauen Himmel, deshalb sind wir froh, als wir endlich im kleinen Büro von Wjatschjeslaw Schulshjenko sitzen. Es ist beengt, aber entspannt, und wir genießen Erfrischungen und angenehme Gespräche. Eines ist sicher: Bei diesem Professor würden wir liebend gern ein Seminar absolvieren!

Mit Frau Wenzel vom DAAD, die leider wenig Zeit hat, sind wir zum Mittagessen verabredet. Unter dem schattenspendenden Dach der Restaurantterrasse weht eine angenehme Brise um die Tische. Endlich klärt uns die Lektorin und Übersetzerin über einige Rätsel auf der russischen Karte auf. Was die Zusammensetzung gewisser Speisen betrifft, waren unsere Interpretationen doch reichlich realitätsfern, wie wir nun feststellen. 

Am Nachmittag stoßen wir ab 16 Uhr wieder zu den Kongressteilnehmern, um mit ihnen auf dem Stadtrundgang die Spuren Lermontows zu verfolgen. Das Wetter ist umgeschlagen. Es ist dunkel, man fürchtet Gewitter und Regen. Der Rundgang wird fast zwei Stunden dauern. Immer wieder gehen die Blicke nach oben, während eine Teilnehmerin unbeirrt und ohne Pause referiert. Man hat den Eindruck, weder Blitz noch Hagel werden sie von ihrem Vortrag abhalten. Dank Anja und Leila haben wir einige der Stationen auf dem Rundgang wie den Tempel, die kleine Grotte oder die Galerie schon kennengelernt. Zurück geht es über die Promenade, am Theater und den Jermolow-Bädern vorbei, zum Zwetnik-Park (Blumenpark). Die Bäder – wieder mal von den Bernadazzis erbaut – dienten ursprünglich zur Behandlung erkrankter Soldaten oder Militärs. Am Parkeingang liegt die Lermontow-Galerie. Das 1901 erbaute blaue Phantasie-Gebäude ist ein auffälliger Mittelpunkt und Wahrzeichen des Ortes. Ausstellungen und andere Veranstaltungen finden hier statt. 

Die Lermontow-Galerie. Märchenhaftes Wahrzeichen von Pjatigorsk

Schlusslicht des Rundgangs ist die Diana-Grotte. Ursprünglich war der kleine, mit zwei Säulen verzierte Hohlraum Teil der Gedenkstätte für die erste Elbrus-Besteigung. Dann wurde eine Diana-Figur hineingestellt – und so erhielt die Grotte ihren Namen. Wenige Tage vor seinem Tod soll der Dichter hier einen Ball gegeben haben. Der ideale Ort für das offizielle Gruppen-Abschlussfoto.

Ein Taxifahrer bringt uns durch den Feierabend-Verkehr. Vorne auf der Ablage ist ein Tablet befestigt, auf dem Musikvideos laufen. Die Musik finde ich schrecklich, aber ein Video hält mich gefangen. Aus dem Wachs einer brennenden Kerze stülpen sich vier kleine, gesichtslose Figuren. Sie bewegen sich zuckend und tanzend um die Flamme herum. Plötzlich springen sie von der Kerze hinunter in die Dunkelheit und beginnen, schnell zu laufen. Eine der Figuren erstarrt, ein paar Meter weiter die nächste, doch eine läuft zurück und nimmt sich ein Stück vom brennenden Docht. Auf ihrem Weg durch die Dunkelheit zerfließt von der Hitze der Flamme erst ihr Gesicht, dann der obere Teil des Körpers – sie stirbt. Die letzte Figur nimmt die Flamme schnell an sich, aber auch ihr ergeht es so. Alle sind zum Sterben verdammt, egal, was sie machen. Blieben sie oben auf der Kerze, würden sie wieder zu flüssigem Wachs. Tragisch. Es kommen neue, wieder vier Figuren, aus dem Wachs. Gebannt verfolge ich, ob sie das gleiche Schicksal erwartet. Drei sterben, aber eine kommt durch! Die Figur springt mit dem Stück brennenden Docht in der Hand über einen Abgrund ins – All?, und wird – so meine Interpretation – eine Sternschnuppe oder etwas ähnliches. Ich bin völlig weg und habe beim Aussteigen das Gefühl, einen langen Film über Leben und Tod gesehen zu haben.

Mittwoch, 16.5.

Am letzten Tag können wir länger schlafen. Wir werden erst um 11:00 Uhr abgeholt. Trotzdem bin ich, wie die Tage davor, um 6.30 Uhr wach; es ist einfach schon zu hell am Morgen. Der Himmel ist blau, auf der Kalinina Prospekt rauscht der Morgenverkehr. Nach der Dusche packe ich schon mal einen Teil des Koffers, während meine Zimmergenossin noch tief und fest schläft. Dann gehe ich allein in die „Provence“. Der Kaffee tut gut, und eins von den süßen Croissants muss heute noch mal sein. Viele Frauen kommen herein, nehmen Gebäck mit, manche setzen sich zum Frühstück auf einen der Hocker. Ein freundliches Stimmengewirr übertönt die französischen Chansons. Es ist das allmorgendliche Wiedererkennen des Immergleichen, mit der sich der Tag ein wenig leichter angehen lässt. Mir fällt auf, dass die Frauen trotz des heißen Wetters Strümpfe tragen. Es ist ja bekannt, dass Russinnen viel Wert auf ihr Äußeres legen; auch in einer Universitätsstadt wie Pjatigorsk ist das nicht anders. Selbst Frauen, die leger oder sportlich gekleidet sind, haben entweder eine mit Strass besetzte Tasche umgehängt, künstliche Fingernägel oder Wimpern angeklebt, oder tragen Schuhe mit höheren Absätzen. Und ohne Make-up geht wohl grundsätzlich keine aus dem Haus. Dennoch wirken die Frauen nicht künstlich, nicht schrill oder aufgemotzt, sondern ganz natürlich in der Betonung ihrer Weiblichkeit. Sie wirken selbstbewusst und stolz. Ein bisschen könnten sich manche deutsche Frauen mit ihrem durchweg praktisch-bequemen Stil, mit dem sie abgehetzten Blickes durch den Tag rennen, ruhig abgucken. Ich schließe mich da durchaus ein. 

Bevor es mit zwei Autos aufs Land geht, machen wir noch an einem Gedenkort auf dem Maschuk halt. Von Bäumen und Vogelgezwitscher umgeben, markiert eine Stele den Platz, an dem Michail Lermontow sich einst duellierte und den Tod fand. Flankiert wird er von vier furchterregenden steinernen Adlern. Ihre Körper sind zur Stele gewandt, während die Köpfe verdreht in Richtung Besucher blicken. Warnen sie, oder wenden sie sich vom Geschehen ab? 

Der äußere Stadtrand, durch den wir fahren, zieht sich wie ein staubiger, ausgefranster Gürtel, bestehend aus kleineren und größeren Industriegebieten, um Pjatigorsk. Hallen, manche schmutzig und ungenutzt, stehen Wunden schlagend in dieser Landschaft, die groß genug ist, um den Schaden mit Würde zu tragen. Dann, endlich, öffnen sich vor uns die weiten Flächen mit ihren fein geschwungenen, sanften Hügeln, die wir bis jetzt nur vom Maschuk aus gesehen haben. Ihr kräftiges Grün leuchtet in der Sonne, unter einem Himmel, der hier näher an der Erde liegt als woanders. Irgendwann biegen wir ab, es geht über eine schmale Straße den Beschtau hinauf zum Beshtagorovsky-Kloster, einem Männerkloster. Erst laufen wir etwas verloren herum, als hätten sich die Harmonie und Stille des Ortes über uns gelegt und zögen uns spielerisch mal hierhin, mal dahin. Dass hier gebaut wird, so ganz ohne Dreck und Baulärm, wirkt fast surreal, wie ein eingefrorenes Bild auf einem Bildschirm. Um eine neu errichtete Kirche steht noch das Gerüst, doch die Kuppeln leuchten schon goldig in der Sonne. Daneben ein Kirchlein und eine Art Rundbau, von weiß gestrichenen Zäunen eingerahmt, Insekten, Ausblick, gleißende Sonne. Ein Ort, an dem ich mich in den Schatten setzen möchte, um Stunden nur da zu sein, Frieden und reine Luft zu atmen. Zu unserer Überraschung kommt ein russisch-orthodoxer Mönch aus einem der Häuser und fragt, woher wir sind. Über seinem Talar baumelt ein riesiges Kreuz, das er immer wieder berührt, in seiner Linken hält er ein iPhone. Er ist einer der zehn hier lebenden Mönche. Er wirkt jung, und – denkt man sich Talar und Mütze weg – könnte man ihn sich ohne Weiteres auf einem übers Meer preschenden Surfbrett vorstellen. Spontan führt er uns herum, erzählt über die Geschichte des Klosters, erklärt uns begeistert das Leben hier und zeigt uns das Museum. Auf einem schattigen Platz, der ca. 600 Gläubige fassen kann, werden Gottesdienste und Feierlichkeiten abgehalten. Noch ein Stück bergan liegen Kräutergärten und Bienenstöcke. Neben der Produktion von Brot und Kerzen ist der Honig eine Einnahmequelle für dieses Kloster. Und natürlich die Pilger. Ein Ort der Einsamkeit und Zurückgezogenheit. Hier wohnt die Stille; über uns kreist in gar nicht weiter Entfernung ein Adler. Und doch wirkt dieser Mönch so gar nicht mönchisch, sondern überaus weltoffen. Seine Freundlichkeit und Begeisterung schließt alle Menschen ein, egal woher sie kommen. Bereitwillig lässt er sich mit uns fotografieren und macht selber Fotos, die er wenige Stunden später auf Instagram postet (beshtau_afon_monastery).

Gruppenfoto mit Mönch


Bei den Frauen des Hl. Georg

Das Frauenkloster St. Georg, zu dem wir anschließend fahren, liegt etwa auf der anderen Seite des Tals, dem Beschtau gegenüber. An der Einfahrt zum Kloster ist ein überdimensionaler Bronze-St. Georg im Moment des Sieges über den Drachen erstarrt. Etwas starr, wenn auch durchaus malerisch, wirkt die ganze Anlage. Den Eingangsbereich schmückt ein umzäuntes Gärtchen, eher ein Mini-Park. Hier steht jede Blume wie eine Eins, kein Grashalm ist zu lang, die Erde geharkt, die Kieswege, die sich durch die Blumenpracht schlängeln, glänzen rein weiß, kein Stäubchen stört.  Alles scheint millimetergenau angelegt und geordnet. Schade, dass der Heilige es nicht sieht (oder sieht er´s doch?). Es ist ein Ort der Schönheit, Harmonie und Ästhetik, und doch ist es eine Ästhetik, die abweist, denn sie zieht Grenzen, sagt dem Besucher, dass er hier nur Besucher ist.
Der heiße trockene Wind hat uns durstig gemacht. Und wie ein Wunder steht da ein kleiner Rundbau, in dem es Wasser gibt. Die gemauerte und gekachelte Konstruktion, die fast den gesamten Raum einnimmt, birgt wahrscheinlich eine Quelle. Kühl und wohlschmeckend kommt es aus den Hähnen. Es kann nicht nur Einbildung sein, dass wir uns hinterher erfrischt und gestärkt fühlen. Wir meinen auch, dass unsere Gesichtsfalten leicht zurückgegangen sind.
Die Kirche dürfen nur Frauen betreten. Alte Nonnen machen uns mit strengem Gesicht darauf aufmerksam, dass nur das Tuch auf dem Kopf nicht reicht. Man gibt uns eine Art Wickelrock, den wir irgendwie über unseren Hosen drapieren. Die Farbenpracht der orthodoxen Kirche ist immer beeindruckend, hier jedoch wirken die Rot-, Blau- und Grüntöne zwischen dem vielen Gold wie verdichtet. Der ganze Raum steht in einem wunderbaren Dialog mit dem einfallenden Sonnenlicht.

Etwa zwanzig Minuten von dieser traumhaft anmutenden Klosterwelt entfernt liegt der Kurort Kislowodsk, der die nächste Station auf unserer Besichtigungstour sein soll. Wie es Kurorte so an sich haben, ist auch dieser von Menschen und Autos überfüllt, die Häuser sind hübsch, Hotels, Pensionen, Cafés, Promenaden. Fast sind wir froh, dass wir keinen Parkplatz finden und wieder umkehren. Wir sind sowieso schon spät dran, denn irgendwo erwarten uns Vladimir Shatakishvili und die sogenannte „letzte georgische Prinzessin“ zum Mittagessen. Es geht an einen See, an dem sich eine große Forellenzucht befindet. Unsere Fahrerinnen sind etwas orientierungslos, sie suchen, schließlich fahren wir über einen schmalen Weg auf die andere Seeseite. Wo wir aussteigen, steht, von Trauerweiden umgeben, ein größeres Haus, das der Familie des Schriftstellers gehört. Alles wirkt ruhig, wie aus einer anderen Zeit. Kein Schild deutet auf irgendetwas hin, schon gar nicht auf ein Restaurant. Nur die Frösche quaken und hin und wieder stößt ein Fasan in einem Gehege einen fürchterlichen Laut aus, der uns jedesmal zusammenzucken lässt. Vor dem Haus stehen Tische mit festen Grillplätzen, die bis ans Ufer reichen. Auf der anderen Hausseite befinden sich riesige Zuchtbecken, die über Kaskaden mit frischem Wasser gespeist werden, da rauscht und plätschert es. Leonid Iljitsch Breschnew, der ehemalige Staatschef der UDSSR, kam seinerzeit hierher, weil es hier die besten Forellen gebe, erzählt Natalia. Und nun kommen die Autor*innen aus Dortmund auch einmal in den Genuss, da zu speisen, wo einst der große und gefürchtete Staatsmann speiste. 

Der Gastgeber führt uns ins Haus. Es geht eine enge Holztreppen hinauf. Oben befindet sich ein Jagdzimmer. Über einem Kamin prangt ein Bärenfell neben dem Kopf eines Hauers, Wolfsfell zwischen Hirschgeweih und ausgestopftem Fuchs, Flinten, Säbel. Alles sehr männlich hier. Doch nebenan gibt es einen hellen Raum mit einer feierlich gedeckten Tafel. Wir sind elf Leute, die hier zum georgischen Mittagessen geladen sind. Mit am Tisch sitzt ein ruhiger, bescheiden wirkender Mann in Jeansjacke. Vladimir sagt irgendwann – wie nebenbei –, dass er der Herausgeber einer der wichtigsten Literaturzeitschriften sei. Ein erlesener Wodka, Rotwein, Kräuter und Wildsalat aus der Gegend, Fischsuppe, geschmortes Gemüse, Eingelegtes (die süß-sauer-salzigen Pflaumen haben es mir besonders angetan), und die Krönung: eine fangfrische Forelle, sicher die beste, die ich bis jetzt gegessen habe.

Und schon bald geht es wieder los: Prof. Schulshjenko erhebt sich,  „Liebe Freunde …“. Diesmal sagt er etwas über jeden von uns, es ist wie eine Art Resümee zum Abschluss unserer Reise. Wir sind überrascht, mit welch genauem Blick er in den wenigen Tagen Charakter und Besonderheiten, auch Eigenarten eines jeden erfasst hat. Und er spricht auf eine Weise, dass jeder berührt und geschmeichelt ist. Danach sind wir dran. Wir sagen etwas Nettes, Berührendes, weil wir gar nichts anderes sagen können. Wir mögen uns, und ja, es gibt sie, die Verständigung der Völker. Und sie ist ganz einfach, weil sie etwas Natürliches ist und wie von selbst kommt, wenn wir neugierig bleiben, uns füreinander interessieren und uns gegenseitig so akzeptieren wie wir sind. 

Wie schon bei unserer ersten kulinarischen Zusammenkunft, hält man sich nach dem Essen nicht lange auf. Die Frage, ob wir einen Kaffee wollen, heißt: danach ist Schluss. Man bleibt nicht noch ewig, müde vom Verdauungsvorgang und endlos weitertrinkend, am Tisch sitzen. Man erhebt sich, obwohl die Gläser noch halb voll sind, und geht. Es war schön. Danke. Bis zum nächsten Mal.
Auf dem Rückweg im Auto hören wir Chansons des in den 70er Jahren bekannten russischen Schauspielers, Dichters und Sängers Wladimir Wyssozki, lassen uns von der tiefen, rauen Stimme tragen. Vor dem Hotel in Pjatigorsk endet unser Ausflug. Der Abschied von Professor Schulshjenko und Natalia ist ein bisschen traurig. Nein, eigentlich richtig traurig.

Wodka-Spaziergang

Gegen Abend legen Christiane Bogenstahl und ich noch einen unfreiwillig langen Marsch zurück, da wir guten Wodka in einem uns empfohlenen sogenannten „Alk-Market“ kaufen wollen. Dank meiner viel gerühmten Orientierung finden wir diesen Markt. Den Rückweg, so denke ich, können wir abkürzen, ein Klacks. Es ist dunkel, die Straßenlaternen sind eher sparsam angesiedelt. Wir laufen und laufen, die Flaschen klappern in unseren Rucksäcken, und nichts uns irgendwie Bekanntes oder Erhellendes kommt uns vor die Augen. Im Gegenteil: neben uns tut sich eine Art Wald auf, den wir gar nicht zuordnen können. Erst denken wir, es ist der Park, durch den wir schon einmal gelaufen sind – das muss der sein! –, aber es werden nur immer mehr Bäume, die immer dichter stehen. Es wird unheimlich, deshalb schlage ich meiner Begleiterin vor, umzukehren. Puh! Den ganzen Weg wieder zurück! Es ist ja nicht so, dass sich bei uns nicht gewisse Müdigkeitserscheinungen zeigen würden. Christiane, Krimi-Autorin, meint, wir könnten ja durch dieses Waldstück eine Abkürzung nehmen, zwei Jungs biegen gerade auf einen Pfad ein und werden sofort vom Schwarz geschluckt. Na ja, als Verpflegung hätten wir Wodka und genügend russische Süßigkeiten dabei, die Flaschen könnten im Notfall auch als Verteidigungswaffen dienen. Aber schade um den guten Tropfen wär´s schon. Wir spinnen die Geschichte noch ein bisschen weiter und erreichen so irgendwann wieder den verkehrsreichen Kalinina Prospekt. Ich werde diese verfluchte Straße vermissen.
Im Zimmer warten die gepackten Koffer und die geblümte Bettwäsche, in der ich zum letzten Mal für wenige Stunden schlafen darf. Um vier Uhr müssen wir aufstehen.

Im Bauch der Aeroflot versuche ich zu lesen, während sich der übergewichtige Passagier neben mir unaufhörlich bewegt, isst und alle fünf Minuten einen Schluck Cola in Kombination mit einem Schluck Asbach nimmt. Es ist halb acht morgens. Ich setzte mich bald zu Patricia und Christiane auf die andere Seite. Wir gehen noch einmal unseren „Plan“ durch. Wir drei haben nämlich noch ein kleines Abenteuer vor. Die Tatsache, dass wir heute fünf Stunden Aufenthalt in Moskau haben, drängte uns förmlich in dieses Abenteuer … 

Moskau, Moskau!

Wie schon auf dem Hinflug ist die Landung angenehm und bis auf die Minute pünktlich. Diese Pünktlichkeit kommt uns sehr entgegen, denn wir wollen unbedingt den Aero-Express um 10.05 Uhr schaffen, ein Zug der uns vom Flughafen an den Stadtrand von Moskau und zur Metro-Anbindung bringt. Wir landen um 9.35 Uhr in Modul D und müssen nach F. Also rennen wir wie die Besengten durch den Flughafen, zwei verschwinden schnell noch mal auf dem Klo, Patricia hat Hunger und kauft sich ein Croissant, das auch noch aufgewärmt wird – was sein muss, muss sein. Am Ausgang stehen zwei Frauen und verkaufen uns Tickets. Wir sind begeistert, wie einfach das hier ist. So etwas wünschte man sich in Deutschland auch. Um Punkt 10 Uhr sitzen wir im Zug und können es kaum glauben. Spätestens in der Metro mit ihrer ganzen Hektik, dem Rattern der Züge, dem Stimmengewirr, hat man das Gefühl, so richtig ins Moskauer Leben einzutauchen. Wir steigen erst mal in die falsche Bahn, denn die Haltestellen in kyrillischer Schrift müssen wir für unsere bescheidenen Kenntnisse etwas zu schnell lesen und zuordnen. Zwei Mädchen helfen uns weiter. Es ist eine Flut von Eindrücken, Geräuschen, fremden Sprachfetzen, die uns wie in einem Wirbel vorwärts treibt. Während wir ewig lange Rolltreppen hoch- oder runterfahren, bleibt wenigstens etwas Zeit, um die beeindruckenden Leuchter, Marmorsäulen und Mosaike zu bewundern.  

In dem Moment, als wir aus der Metro-Station treten und auf eine prunkvolle Straße zusteuern, die zum Roten Platz führt, sind wir einfach überwältigt. Es ist schon für die Fußball-Weltmeisterschaft geschmückt. Tausende von Mobiles mit kleinen Lämpchen hängen über der Straße. Wir rufen wie blöd zehnmal hintereinander: Ist das schön! IST DAS SCHÖN! In einem Café direkt am Roten Platz lassen wir uns nieder und kriegen uns gar nicht wieder ein. Wir haben fast eine Stunde Zeit. Ich genieße diese Begeisterung, vielleicht, weil ich für einen Moment das Andere ausblende: die Armut so vieler Russen, die an diesem Platz nie einen Kaffee trinken können, die verfolgten oder getöteten Journalisten, das Ersticken kritischer Stimmen, die Ungerechtigkeit hier wie dort. Nur diese Architektur betrachten, als etwas Schönes, Erhebendes, wozu Menschen auch(!) fähig sind. Es macht Hoffnung, worauf auch immer, vielleicht auf die kitschige Version, in der am Ende doch alles gut wird. Darauf, dass – solange die Kunst, die Architektur, die Literatur, die Poesie da sind – nicht alles verloren ist.

Wir wissen wie wir aussehen. Aber es musste sein.

Liebe Freunde …

Meinen Autorenkolleg*innen Christiane Bogenstahl, Patricia Malcher, Anne-Kathrin Koppetsch und Thorsten Trelenberg danke ich für sieben wunderbare Tage, Hin- und Rückflug eingeschlossen. Ein solches Projekt wäre ohne die unermüdlichen Bemühungen und organisatorischen Fähigkeiten von Thorsten Trelenberg sicher bereits in den Anfängen gescheitert. Ihm danke ich auch dafür, dass er nicht aufgegeben hat. Ermöglicht hat uns die Reise das Kulturbüro Dortmund und die Stiftung west-östliche Begegnungen (WÖB) sowie die Auslandsgesellschaft und die deutsch-russische Akademie. An dieser Stelle auch noch mal mein Dank an Maria Khavanova für ihre freundliche und geduldige Unterstützung bei den lästigen bürokratischen Vorgängen. Es mag Kulturschaffende geben, für die solche Reisen zum Berufsalltag gehören, für mich war es das erste Mal und ein sehr besonderes Erlebnis.

Liebe Freunde und Freundinnen im Kaukasus!
Ich habe intelligente, herzliche, gastfreundliche Menschen kennengelernt und durch sie so viel Interessantes und Inspirierendes erfahren. Dafür danke ich euch. Ich komme wieder. Darauf esse ich einen dieser köstlichen grünen Stängel, die die kaukasische Natur zum Verzehr anbietet. Do swidanija!

©copyright by Daniela Gerlach, Alicante 2018