(Eine Erinnerung)
Sobald ich die Treppe hochkam und sie von Weitem am Fenster erblickte, wusste ich, welche Schwester Dienst hatte. Meistens saß sie in einem Rollstuhl, schlief oder starrte vor sich hin, starrte in einen Raum, der für mich nicht sichtbar war. Etwa fünfzehn Schritte musste ich gehen, um zu ihr zu gelangen, währenddessen ich versuchte, ihn zu zerteilen, ihn durch meine Anwesenheit zu zerstören. Ich dachte, dass dieser Raum das große Nichts sein muss. Davon weiß ich noch nicht viel, aber hin und wieder ahne ich etwas davon.
Es kam vor, dass sie einmal in meine Richtung sah, und wenn sie bei meinem Erscheinen eine Reaktion zeigte – der Anflug eines Lächelns, ein Nicken –, dann wusste ich, dass alles in Ordnung war. Dann hatte Schwester Gaby oder Schwester Beate Dienst. Ihr Haar war gekämmt, ihr Gesicht eingecremt, ihr Baumwollanzug gewaschen, und sie roch gut. Sie roch zwar nicht wie meine Großmutter, aber immerhin wie ein gepflegtes, altes Baby. Wenn Schwester Hilde oder Marlis, die Aushilfe, Dienst hatten, war ihr Haar fettig, ihre Haut rau, ihr Anzug bekleckert oder sie stank nach Urin. Auch ihr Blick war dann anders, verschreckt, nach innen gerichtet, dann dauerte es lange, bis sie mich erkannte. Es war auch Schwester Hilde, die meine Großmutter einmal zwei Stunden auf dem Klo sitzen ließ, während die sich die Seele aus dem Leib brüllte. Die ohnehin wund gelegene Haut an ihrem Hintern hatte danach ein Loch, das lange Zeit nicht verheilte.
Fast jeden Sonntag verbrachte ich zwei oder drei Stunden an diesem Ort, den man Altenheim nennt. Als hätten die Alten da ein Heim gefunden. Heim – ist das nicht ein Ort, an dem man sich heimisch, zuhause fühlt? Kommt das nicht von Heimat?
Die Rosa, die sprach manchmal von Heimat. Niederschlesien, Glatz, die Gemeinde Habelschwerdt, das geliebte Wölfelsdorf. Ich hörte diese Namen, als wären es nur Namen, als wäre nichts dahinter. Heimat, fragte ich, die freiwillig Wurzellose. Das klingt so abstrakt, nach einer anderen Zeit, nach einem versunkenen, fernen Land.
Ich kenne dieses Land nicht, in dem die Eltern Vater und Mutter genannt wurden, diesen Hof in Wölfelsdorf, wo immer gearbeitet und sparsam gelebt wurde, wo Rosa dann mit sechzehn Jahren ihre neun Geschwister versorgte, nachdem die Mutter gestorben war. Ich kenne das Land nicht, wo sie als junge Frau lachend auf dem Schoß ihres Verlobten saß. Und schließlich Rosa als Mutter von sechs Kindern und mit einem Mann, der selten da ist, bis der Eigensinn und die Schwindsucht ihn irgendwann ganz aus ihrem Leben nehmen.
Ich kenne dieses Land nicht, das Flucht heißt. Wie war das denn damals? Niemanden kann ich mehr fragen. Ein Riss, ein Abgrund tut sich da auf, nur kurz habe ich hineingeblickt. Güterwagen, das Lager Hoyerswerder, Lungenentzündung. Vier Söhne sind tot, nur ein unterernährter Junge und eine schreiende Vierjährige sind ihr geblieben. Ein Federbett hat sie gerettet und ein kleines, bemaltes Holztablett von ihren Eltern. Heute steht es in meiner Küche. Geschichte haftet daran, Gerüche von trautem Heim, von Hunger und Angstschweiß, Abdrücke von klammen, schmutzigen Händen, von Suppe aus Kartoffelschalen, Gerüche von Vergangenheit, die nie vergeht.
Ich kenne aber ein Land, das ich mit ihr geteilt habe. Da sehe ich sie den Kohleofen feuern und mit ihrer Tochter Gemüse putzen und Kürbis einwecken. Da staunen wir gemeinsam über die erste Zentralheizung, freuen uns über die erste Couchgarnitur, den Durchlauferhitzer im Bad, die Einbauküche. In diesem Land macht Rosa für uns Hefeklöße mit Heidelbeerkompott, manchmal bäckt sie Striezelkuchen oder Plätzchen, aber nur zu besonderen Anlässen, denn es macht ihr viel Mühe. Und immer ärgert sie sich, wenn ihr etwas nicht so gelingt, aber uns schmeckt es gut. An Sonntagen spielen wir nach dem Kaffee „Mühle“ oder „Halma“, wobei sie meistens gewinnt. Dann lacht sie ihr kleines, meckerndes Lachen. Und schließlich ihre Geburtstage. Ich erinnere mich an den 75., weil sie da einen Geschenkkorb und eine Gratulation vom Bürgermeister bekam. Da trinkt sie sogar einen Schnaps und tanzt mit ihrem Schwiegersohn. Sie strahlt über das ganze Gesicht und vergisst den Schmerz in ihren kaputten Knochen, in ihrem ausgebrannten Körper, den zwei rheumakrumme Beine halten.
Als ich größer wurde, wurde die Rosa immer kleiner. „Wenn ich´s doch noch erleben mecht“, sagte sie oft. Die letzten zwanzig Jahre war sie so nah am Tod, denn zu viele Tote hatte es in ihrem Leben gegeben. Wir, die Familie, wir waren wenige, die einzigen Lebenden, und wir hatten eine Zukunft vor uns. Doch Rosa hielt durch und freute sich über die Konfirmation, das Abitur ihrer Enkelin, all die wichtigen Ereignisse, die eine Etappe abschlossen. Jede Etappe bestand aus vielen Jahren. Sogar beim Universitätsabschluss lebte sie noch, aber da war sie schon in diesem Land, das ich nicht mehr mit ihr teilte. Da trennte uns schon das große Nichts, da durfte ich sie nur noch ansehen, ihre Hand streicheln und ihr den mitgebrachten Kaffee vom Mund wischen.
Drei Monate, bevor ich heiratete, starb sie. Bei meiner Hochzeit trug ich in meiner Handtasche ein rotes Säckchen mit Nikoläusen drauf. Darin befand sich das Geld für meine „Brautschuhe“. Sechshundertdrei Pfennige hatte Rosa für mich gesammelt. Das Säckchen habe ich noch, und wenn es mir zufällig in die Hände kommt, dann verhöhnt mich all das, was wir im Allgemeinen als wertvoll ansehen.
Es gibt Tage, da wache ich morgens auf und habe lauter Gedankenfetzen in meinem Kopf. Als hätten die Träume nicht alles bewältigen und wegschaffen können. Da schiebt sich immer wieder etwas in mein Leben, stört seinen bequemen Ablauf, macht mich traurig, lässt mich die Dinge anders sehen. Nein, Träume schaffen nichts weg. Sie filtrieren, und was zurückbleibt, begleitet einen als Erinnerung. Die Erinnerung ist unser treuer Schatten, unser mahnendes Alter Ego, unser Fluch.
In den Träumen ist Rosa eine Frau ohne Heimat, immer alt und schwach, als wäre sie nie jung und stark gewesen, als wäre sie nicht eine der stärksten Frauen ihrer Zeit gewesen.
Ein Mensch und so viele Jahre. Von 1896 bis 1992.
Ein Jahrhundert, in einen Jogginganzug gesteckt, weil die Alten sich dauernd bekleckern, wegen der Bequemlichkeit, oder weil man von der Würde eines Menschen nichts wissen will. Als ob die Rosa aufstehen und losrennen könnte, zurücklaufen, Jahr für Jahr, Begegnung für Begegnung, bis sie wieder an dem Ort anlangt, der heute Wilkanów heißt. Vielleicht hat sie das ja getan, ist zurückgelaufen und hat alles noch einmal durchlebt, in Gedanken. Vielleicht war sie schon dort, wo ich nur das große Nichts sah.
Die Orte, die sind da: die Kreisstadt Klodzko und die Nysa Klodzka, Wilkanów. Und vielleicht auch Frauen, die ein ganzes Jahrhundert gelebt haben, die einfach nicht sterben können, so wie die Rosa. Worauf warten sie?
©copyright by Daniela Gerlach, Alicante 2011
Erschienen in Best of Wort-Café, Siegertexte 2013-2014, Hrsg. Heike Wulf